Die Hauptstadt

Gibt es eigentlich eine EU-Richtlinie für die korrekte Benennung von Kunst?

Den großen Fehler haben die Theatermacher lange vor der Premiere gemacht. Sie haben die Aufführung als Schauspiel angekündigt, doch was dann gezeigt wurde, war eine szenische Lesung. Statt sich die Handlung im Spiel der Figuren entwickeln zu lassen, wurden im Wesentlichen größere Textpassagen aus Menasses umstrittenen Werk vorgetragen, gelegentlich unterbrochen von gespielten Situationen. Einige Zuschauer verließen das Theater in der Pause. Sie kannten das Buch und wollten sich keine Hörbuchfassung antun. Andere verließen die Vorstellung, weil das Dargebotene zur wirr schien.

Es war vermutlich gut, dass ich das Buch nicht gelesen, mir aber eine Inhaltsangabe zu Gemüte geführt hatte. So waren die vorgetragenen Texte frisch und ich konnte den vielen parallelen Handlungssträngen folgen. Und ich mag szenische Lesungen, ich finde, es ist eine schöne Kunstform.

Nur eben kein Schauspiel. Vielleicht wollte Marc Zurmühle wirklich ein Drama aus dem Buch ableiten, hatte sich dann aber an der Aufgabe verhoben und schließlich mehr und mehr Lesestrecken aufgenommen. Vielleicht hatten die Verantwortlichen auch nur Sorge, dass die Zuschauer fernbleiben würden, wenn das Wort „Lesung“ auf dem Programm stünde. Ich finde nämlich auch, dass eine Lesung eher in die Werkstatt gehört, als auf die große Bühne.

Nun denn. Die Aufführung ist nicht schlecht. Wenn sich der Vorhang hebt, die ganze Bühne im Nebel liegt und die Akteure langsam ins Licht schreiten, ist man als Zuschauer schnell eingefangen. Irgendwann wird das Stück etwas zäh, es sind dann zu viele Handlungsstränge, die Zurmühle aus dem Buch übernommen hat. Weniger wäre vermutlich mehr gewesen. Den polnisch-christlichen Attentäter hätte man komplett auslassen können, es bleibt nämlich unklar, wie er mit dem Rest des Stücks in Verbindung steht.

Das Stück zeigt den EU-Apparat eher kritisch. Karrieristen, Bürokraten und Apparatschiks bestimmen das Geschehen. Da, wo neue Ideen geboren werden sollen, im Think-Tank, agieren die Mitglieder wie eine Selbsthilfegruppe. Das scheint völlig überzogen, aber wenn man Jan Timmers kürzlich im Fernsehduell sagen hört, der Islam gehöre seit 2000(!) Jahren zu Europa, dann muss man annehmen, dass mehr Realität als Satire im Stück dargeboten wird. Fast durchweg ist das Reden über Europaideale nur leere Phrasendrescherei. Es scheint den EU-Beamten zwar völlig selbstverständlich, dass man die EU zu einem Superstaat ausbauen muss. (Eine bei den europäischen Bürgern durchaus kontroverse Frage). Doch scheint der Wunsch nach mehr EU-Staat eher von der Erwartung nach mehr Macht und Ansehen getrieben. Nur wenige Figuren treibt die Sorge um Frieden um.

Die Schauspieler – bis auf eine Ausnahme – machen ihre Sache gut. Man muss es bewundern, wie seitenlange Texte fehlerfrei auswendig vorgetragen werden. Im Spiel ist reichlich viel Klamauk, etliche Slapstick-Einlagen heitern die Zuschauer auf. Das birgt die Gefahr, das Stück ins Alberne zu ziehen, doch das ginge in Ordnung, wenn nicht Johanna Link das Fass zum Überlaufen brächte. Es scheint, als könne sie nur die Clownsrolle spielen. Im Schweijk hatte mich das schon gestört, aber ich hatte es eher der israelischen Regisseurin Sapir Heller zugeschrieben. Aber in der „Hauptstadt“ hätte Link mehr zeigen können und müssen. Ihre drei Rollen, als Pflegerin im Altenheim, als Leiterin des Think-Tanks und als Fenia Xenopoulou, Abteilungsleiterin Generaldirektion Kultur, drängen sich nahezu auf, mit unterschiedlichen Frauentypen dargestellt zu werden. Links Ausfall reißt die Aufführung fast in den Abgrund.

Alles in allem ein durchwachsener Gesamteindruck. Wenn man, wie ich, szenische Lesungen mag, kann man dennoch einen unterhaltsamen Abend erleben.

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