Jeder stirbt für sich allein

Und welche Postkarte schreibst Du?

Nun hat also die neue Spielzeit begonnen. Das heißt, für mich begonnen, denn angefangen hat sie schon vor ein paar Wochen. In der Coronazeit werden die Premiereabonnenten nur in Kleingruppen über Wochen in die Aufführung gelassen, meine Termine gehören zu den späteren. Einen Vorteil hat’s, man kann wie in der First Class im Flugzeug die Beine schön ausstrecken.

Fallada erzählt die wahre Geschichte eines Ehepaars, im Stück heißen sie Quangel, das Postkarten schreibt und verbreitet, in denen sie zum Widerstand gegen das Naziregime aufgerufen. Der Tod ihres Sohnes an der Front hat sie aus dem Mitlaufen herausgerissen. Beide werden vom Kriminalkommissars Escherich am Ende gefasst und hingerichtet. Sie haben nichts erreicht, oder fast nichts. Einzig Escherich erreicht ihre Botschaft, aber erst, nachdem er sie verhaftet hat. Aus Scham tötet er sich selbst. Alle sterben einsam, in einer gesellschaftlichen Maschinerie, die davon unbeeindruckt weiterläuft.

Das Stück ist eine szenische Lesung. Nicht jeder mag das, mir hat dieser Stil bisher immer gefallen. In der Aufführung treten die Schauspieler regelmäßig aus ihrer Rolle heraus und rezitieren größere Buchpassagen. Schnell hört man auf, die Übergänge zu identifizieren und beides, Spiel und Vortrag, verschmelzen zu einer flüssigen Aufführung. Den Schauspielern muss großes Lob gespendet werden, hervorheben würde ich Ingo Biermann, Sebastian Haase und insbesondere Katrin Huke; auch die neuen Ensemblemitglieder geben einen vielversprechenden Einstieg.

Die Spiel- und Vortragspassagen bilden einen eigenartigen Kontrast. Es sind die rezitierten Texte, die die Personen nahebringen, das Spiel dagegen betont die Rolle. Distanziert, fast steif wirkt oft die Schauspielerei. Es ist nicht der Text, der das Spiel sachlich kommentiert, es ist das Schauspiel, dass den Text illustriert, wie eine Zeichnung im Kinderbuch. Den Schrei von Anna Quangel bekommen wir erzählt, sie sitzt nur stumm da. Manchmal ist es zu plakativ. Während bei allen Spitzeln und Handlanger erkennbar ist, dass sie ganz normale Menschen sind, die ins Mitlaufen gerutscht sind, bleibt der SS-Obergruppenführer Prall eine lächerliche Karikatur. Alexia Rödiger gelingt es nicht, einen leibhaftigen Menschen zu erwecken der zur angesehenen Elite und zugleich zum Abschaum gehört. Die Besetzung der Rolle mit einer Frau war keine so gute Idee. Die Text-Spiel-Mischung aber bleibt reizvoll und erlaubt es, zugleich im Geschehen zu sein und von außen darauf zu schauen. Der Kunstgriff ist vielleicht auch der Pandemie geschuldet. Da, wo Otto seine Frau Anna umarmen müsste, verharren sie im Coronaabstand. Mehr körperliche Nähe geht halt nicht.

Das Bühnenbild ist so einfach wie gelungen: Der Zuschauerraum wurde einfach gespiegelt. Auf der Bühne stehen die gleichen lückenhaften Stuhlreihen wie im Parkett – Stühle gibt es ja genug, nachdem der Großteil der Sitze ausgebaut wurde. Mehrfach sitzen uns die Schauspieler direkt gegenüber und die Zuschauer könnten aufstehen und ihrerseits zu spielen beginnen. Auch die Postkarten der Quangls liegen im Parkett verstreut, so wie auf der Bühne.

Die Symbolik ist vielleicht plump aber sehr wirkungsvoll. Wann würden wir anfangen, Karten zu schreiben, und was würden wir schreiben? Die Karten auf dem Boden sind grau und leer, es sind nicht die Abstandhalten-gegen-Rechts-Karten, die das Theater anderweitig verteilt. Das ist gut, denn es ist nicht offensichtlich, dass es ein nationalistischer Faschismus sein wird, gegen den wir vielleicht einmal gefordert sein könnten. Vielleicht ist es ein sozialistischer, wie er erst vor dreißig Jahren endete. Immerhin gibt es dafür noch reichlich personelle und ideologische Kontinuität. Oder vielleicht ein religiöses Regime. Wenn ein Lehrer in Paris auf offener Straße geköpft wird, weil er seinen Schülern Meinungsfreiheit am konkreten Beispiel nahebringen will, fällt auf, dass deutsche Politiker, anders als andere europäische Landeschefs, dröhnend schweigen, oder am Wort Islamismus vorbeischwurbeln.

Vielleicht ist die Coronazeit eine Übungszeit für Demokraten. Werden wir uns voller Stolz um unsere erfolgreiche Regierung scharen, deren Regelungskakophonie und so gut durch die Krise gebracht haben? Werden wir uns gegeneinander in Aufmärschen niederbrüllen, wie vor ein paar Wochen in Konstanz? Werden wir fleißig von Coronadenunziationsportalen wie in Essen Gebrauch machen? Oder werden wir im kontroversen aber solidarischen Diskurs die zur Disposition stehenden Güter abwägen. Wenn das nicht gelingt, wird der nächsten totalitären Herrschaft ein fruchtbares Feld bestellt.

Dem „Team Becker“ ist der Einstieg gelungen. Man hat gezeigt, dass es nicht eines mächtigen Impresarios bedarf, um gutes Theater zu machen. So kann es weitergehen!

PS: Bis auf das Programmheft. Da würde es mich freuen, würde man zum A6-Format, also zur Jackeninnentaschenkompatibilität und zum alten Preis zurückkehren. Wer will schon das Druckwerk zwei Stunden in den Händen drehen.

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