Gerron

Schicksal eines Regiefanatikers

Ungeplante Erlebnisse sind oft die bereicherndsten. Es war Zufall, dass wir gestern in „Gerron“ gelandet sind. Eigentlich stand „Momentum“ auf meinem persönlichen Spielplan, es fiel aber wegen der plötzlichen Erkrankung von Ingo Biermann aus. Wir hatten nur zwei Minuten um vom großen Haus in die Werkstatt zu wechseln und zum Glück hatte ich keine Ahnung, worum es in Gerron ging und musste schnell entscheiden, um die letzten Plätze zu sichern.

Zum Glück deshalb, weil erst, als das Stück begonnen hatte und ich André Rohde als Gerron mit Judenstern auf der Bühne sah, mir klar wurde, dass es an diesem Abend um die Grauen des Dritten Reichs gehen würde. Auch die Holzkonstruktion auf der Bühne entpuppte sich damit als KZ-Verschlag. Ich bin nicht immer aufnahmebereit für solchen Stoff. Besuche in KZ-Gedenkstätten führen einem stets vor Augen, wie grauenhaft Menschen sein können und wie viel Leid sie einander zugefügt haben. Ich muss mich erst innerlich darauf einstellen, bevor ich mich dem aussetze. Dazu kommt meine Sorge, dass das Thema für irgendeine Agenda missbraucht wird.

Der Anfang in der Werkstatt machte aber sofort klar, dass alle diesbezüglichen Sorgen bei dem Stück von Charles Lewinsky und der Regie von Anette Gleichmann unnötig gewesen wären. Das Schicksal des jüdischen Schauspielers und Regisseurs Kurt Gerron wird behutsam in Szene gesetzt. Mir genügen schon die Fakten seiner Biografie, um zu merken, welche Gipfel und welche Abgründe mir bisher im Leben erspart geblieben sind. Gerron wurde im Ersten Weltkrieg schwer verletzt, studierte Medizin, um dann als Lazarettarzt zu dienen. Nach dem Krieg wechselte er zum Film, zuerst als Schauspieler, später als Regisseur. Er war erfolgreich und berühmt und arbeitete mit Größen wie Marlene Dietrich, Fritz Lang oder Heinz Rühmann. Doch anders als viele Größen der damaligen Zeit verpasste er den Zeitpunkt, sich in die USA orientieren. Er musste aus Deutschland fliehen, aber es gelang ihm in bemerkenswerter Hartnäckigkeit immer wieder beruflich Fuß zu fassen, in Paris, Wien und später in den Niederlanden. Die Schauspielkollegen in den USA hatten bereits eine Schiffsüberfahrt von den Niederlanden nach Amerika war arrangiert, doch Gerron schlug sie aus, fanatisch an seinen Projekten in Amsterdam arbeitend. Es ist erschütternd, dass er mit seiner Ignoranz der drohenden Gefahr nicht nur sich, sondern auch seine Frau und seine Eltern letztlich in den Tod führte.

Das Theaterstück erzählt Gerrons Leben vom Ende her. Es beginnt 1944 mit dem Auftrag von SS-Obersturmführer Rahm, Leiter des KZ Theresienstadt, einen Propagandafilm über das Lager zu drehen. Gerron weiß, dass der Film die Lügen über Theresienstadt aufrechterhalten soll, doch er hofft, dass er vielleicht dem einen oder anderen Mitgefangenen, die Überlebenschancen erhöhen kann. Vielleicht, so denkt er, endet der Krieg vor dem Ende der Dreharbeiten. Dazu kommt, dass er wieder als Regisseur arbeiten will, es ist sein Lebensinhalt. Doch alle Illusionen zerbrechen an der brutalen Realität. Dass die Filmassistentin, die er retten wollte, bereits nach Ausschwitz abtransportiert wurde, erfährt Gerron von Epstein, Mitglied des Judenrats. Der sagt ihm auch, dass man ihn dafür vor dem Todesurteil bewahrt hatte. Gerron versteht, wie umfassend er sich belogen hat, als ihn der Latrinenwärter stur darauf hinweist, dass sein Satz „Ich bin Regisseur“ die falsche Zeitform hat. Es müsse heißen „war“.

Immer wieder tauchen Szenen aus der Vergangenheit auf: Das Warten im Schützengraben, Gerron als Kind mit dem Großvater, das Kennenlernen seiner Frau, die mit ihm den Verschlag im KZ bewohnt. Wir erleben an einem einzelnen Schicksal, wie ein Talent sinnlos verschwendet und ein Leben sinnlos vernichtet wird, wie ein Mensch bis zuletzt um seine Würde kämpft, die doch schon lange verloren ist. Und wir wissen, dass das millionenfach geschehen ist.

Es gelingt den Schauspielern, das Furchtbare verdaulich zu machen. Dabei hilft die Musik, für die Andreas Kohl verantwortlich ist. Vor allem gelingt es dadurch, dass immer wieder zwischen Schauspielerei und Puppenspiel gewechselt wird. Die Hälfte der Szenen spielen nämlich Puppen, die von Ira Hausmann und Janna Skroblin geschaffen wurden und von Magdalene Schaefer und Sebastian Fortak geführt werden. Die Wechsel zwischen Puppen- und Schauspiel ist schnell, manchmal fast unbemerkt, doch gibt er dem Stück die nötige Leichtigkeit.

Es lohnt sich, das Schicksal Gerrons nachzuvollziehen. Denn es ist immer der Einzelne, der untergeht, wenn Menschen sich über ihre Gruppenzugehörigkeit identifizieren, sei es im Dritten Reich, sei es in Stalins Sowjetterror und seinen Gulags, sei es während Maos Kulturrevolution, sei es während Pol-Pots Schreckensherrschaft oder wo auch immer. Und es ist immer nur der Wert des Einzelnen, der der ideologischen Raserei entgegengesetzt werden kann.

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