Muttersprache Mameloschn

Schwarze Löcher in der Familienaufstellung

Jetzt habe ich gleich zwei Stücke über jüdische Familien gesehen. Zuerst Die Träume der Abwesenden von Judith Herzberg und, kurz danach, das Stück von Sasha Marianna Salzmann. Beide Aufführungen zeigen, wie die Shoa nicht aus dem Leben der Familien weggedacht werden kann und wie unterschiedlich die jeweils drei Generationen damit umgehen. Herzbergs Trilogie ist ein Epos von fünf Stunden, mit 15 Protagonisten, und viel Handlung über mehrere Jahrzehnte. Salzmann dagegen verzichtet auf Handlung und gewährt dafür Einblick in das Seelenleben der drei Protagonisten: Großmutter, Tochter, Enkelin.

Foto: Bjørn Jansen

Salzmanns Ansatz ist deutlich schwieriger. Fast ganz ohne Handlung, nur mit Dialogen, Monologen und Gesprächen mit Abwesenden könnte ein Theaterabend auch zäh werden. Dass das nicht passiert, ist vor allem den Schauspielern zu verdanken, allen voran der großartigen Katrin Huke als Clara, die mit einer Urgewalt schreit und singt und flüstert und rennt und springt und keine Sekunde daran zweifeln lässt, welcher Lebensvulkan unter der Oberfläche des Sandwich-Daseins zwischen Mutter und eigenen Kindern schlummert. Auch Pauline Werner gibt die Rachel sehr überzeugend: Die sich ablösende Tochter, die ihren Schmerz über ihren entschwundenen Zwillingsbruder mit pampigem Trotz und berührenden, an ihn gerichteten Monologen bekämpft. Und schließlich Sabine Martin als Lin, die Großmutter, die den Holocaust überlebt hat und danach in der DDR ihre Karriere als Sängerin jüdischen Liedguts verfolgt hat, bis sie Zweifel am sozialistischen Weg überkamen. Auch sie macht ihre Sache gut, nur finde ich die Figur der Lin nicht so überzeugend, dazu weiter unten mehr. Abdullah Kenan Karaca ist zu danken, dass die Regie sich nie in den Vordergrund gedrängt und Platz für die Darsteller gelassen hat.

Wenn man über die Generationenfolge nachdenkt, kommt man unweigerlich auf die Frage, was Eltern an ihre Kinder und was diese wiederum an ihre Nachkommen weitergeben. Und auch die Großeltern an die Enkel. Oder genauer: Was sich die Enkel von den Großeltern holen. In beiden Stücken suchen die Enkel nämlich Anschluss an die jüdischen Wurzeln, die von der Zwischengeneration eher gekappt wurden.

Aber unabhängig von dem speziell Jüdischen: Jeder kennt die Konstellation, viele Zuschauer haben zwei der Rollen schon durchlaufen, manche sogar drei. Man fragt sich gerne: Wo habe ich das her? „Mein Hang zum Künstlerischen kommt bestimmt von Opa sowieso“, „meine Unbeherrschtheit habe ich garantiert von Mutter“ und so weiter. Solange es um Dinge geht, die wir in den Genen vermuten, ist das alles nette Spekulation. Wobei die Frage, was genetisch und was gesellschaftlich determiniert ist, seit jeher und heutzutage immer mehr eine hochideologische Frage ist. Dass die extreme Blank-Slate-Theorie hanebüchen ist, weiß jeder, der Kinder großgezogen hat (oder sich mit dem Stand der Wissenschaft befasst hat). Je nachdem, wo man die Grenzlinie zieht, verortet man die Schuld an Missständen bei den Einzelnen oder den Umständen. Aber wenn es in der Familie zum Drama kommt, zu Auseinandersetzung und Vorwürfen, geht es fast nie um Biologie, im Sinne von: Warum musste ich nur Deine blöden Gene kriegen? Es geht immer um das, was die Eltern getan haben. Warum durfte ich nie Freunde einladen? Warum mussten wir ständig umziehen? Warum hast Du mich nie richtig geliebt? So oder ähnlich gehen die Vorwürfe, immer in Richtung von jung nach alt.

Und wenn man annimmt, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Unglück der Kinder verantworten, ist man schnell dabei, dass dieses Unglück auch an deren Kinder weitergegeben wird. Vielleicht sollte man nicht von Unglück reden, sondern von Schicksal. Wie durch ein unsichtbares Band sind die Schicksale der Menschen über die Generationen verbunden.

Und – um auf das Stück zurückzukommen – bei jüdischen Familien ist die Shoa das Ur-Leid, mit dem sich noch die Enkelgeneration befassen muss. Diesen Fokus hatten beide Stücke. Und da fällt, trotz all der vielen Worte bei Muttersprache Mameloschn auf, dass die drei gar nicht miteinander reden. Jeder frisst seinen Kummer in sich hinein. Die wenigen herausgeschrienen Vorwürfe werden vom Empfänger nicht aufgenommen.

Sehr anschaulich bei Clara an ihre Mutter: „Warum hast Du mich immer abgeschoben?“ „Aber Du warst doch oft bei mir hinter der Bühne.“ Lin will nicht wahrhaben, dass sie etwas in ihrem Leben falsch gemacht haben könnte. Sicher, als Holocaustüberlebende die antifaschistische Gesellschaft mit aufzubauen, war wichtig. Aber wichtiger als das eigene Kind? Lin hatte zwar selbst gemerkt, dass die Stasimitarbeit nicht richtig sein konnte und dass ihre Privilegien einen Preis hatten; einen Aufruf zur Verurteilung des Zionismus‘ war sie nicht mehr bereit zu unterschreiben. Doch ein versöhnliches Gespräch mit ihrer Tochter entsteht nicht im Ansatz. Da wird eine Person gezeichnet, der es nicht gelingt, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen.

Auch Clara kann den Kontakt zu ihrer Tochter nicht finden. Zwischen beiden steht der Sohn, der sich komplett von der Familie getrennt hat und nun im Kibbuz lebt. Wie eine schwärende Wunde hat sich der Verlust in die Familie eingenistet. Irgendwas ist schiefgelaufen in Claras Erziehung. Man müsste darüber sprechen, sich austauschen, doch das tut man nicht. Und so zieht auch Rachel fort nach New York, um das Liebesleben zu erforschen, wie einst ihre Mutter nach Paris zog.

Alles nur Trauer und Versagen, eigentlich besteht Hoffnung nur darin, sich abzulösen und irgendwie allein einen Weg zu finden. Passend dazu war der Bühnenaufbau aus Pappkisten und verpackten Möbeln. Zwar ist die Botschaft bei näherer Betrachtung trostlos, aber der Besuch der Vorstellung regt wichtige Gedanken an.

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